Hallo zusammen,
Es war sicher nicht nur der Pioniergeist, der Ende des 19. Jahrhunderts allerhand Hilfsarbeiter aus Italien nach Deutschland führte - der angemessene Lohn versprach bessere Lebensbedingungen und ein sicheres Einkommen für ganze Familien. Auch in unserer Region waren solche Menschen im Einsatz und errichteten allerhand Bauwerke, deren Spuren mittlerweile leider zusehends verwischt werden. Durch Herrn Rauh konnten wir nun eine davon von Neuem verfolgen und entdeckten dabei ein historisches Kleinod in einem Wald nahe Schauenstein. Direkt neben einem Wanderweg führt hier ein knapp einen Kilometer langer ca. zwei Meter tiefer und ebenso breiter Graben immer am Lehstenbach entlang. An einem Baum wurde vom FWV ein Schild angebracht: "Alter Wassergraben".
Was viele heute nicht mehr wissen, ist die Tatsache, dass es sich bei diesem Graben um den Rest eines Betriebes handelt, der einst kolossale Ausmaße gehabt haben muss und von dem mittlerweile beinahe keine Unterlagen mehr erhalten sind. Ende des 19. Jahrhunderts eröffneten zwei Unternehmer aus Sachsen direkt neben der Lehstenmühle eine umgangssprachlich "Papierfabrik" genannte Firma, die sich auf die Herstellung von Zellstofffabrikaten spezialisiert hatte. Zum Betrieb der Anlage wurden mehrere Turbinen gebaut, die mit Wasserkraft angetrieben wurden; doch woher kam das kühle Nass? Der Lehstenbach konnte nicht angezapft werden, da die Fließgeschwindigkeit zwar zum Betrieb der Lehstenmühle, nicht aber für eine ganze Fabrik ausreichte. 1901 entschloss man sich, mithilfe von alles in allem 100 Arbeitern aus Italien und einer kleinen Lorenbahn entlang des Bachlaufs eben jenen Wassergraben zu errichten, der schließlich in ein kleines Häuschen führte, von dem sich heute nur noch die Grundmauern erhalten haben. Von hier aus wurde das Wasser mittels eines knapp 1,5 Meter breiten Fallrohres aus zusammengenieteten Stahlplatten durch eine natürliche Erhebung hindurch zur Fabrik geführt. Was jedoch niemand erwartet hatte, trat ein: Durch den immensen Druck bildeten sich schon nach kurzer Zeit Risse im Graben und die Fabrik musste bereits zwei Jahre später wieder geschlossen werden. Sie verfiel zusehends und so blieb in den 1950er Jahren nur noch der Abbruch der Grundmauern. (Quelle: Jahn, Hans: "Die Lehstenmühle bei Schauenstein", in "Die Erzähler", 25.02.1956)
Was geblieben ist, ist der, leider teilweise verfüllte, Wassergraben mit Fallrohr und einem Überlaufbecken, in dem man sogar noch einen Holzbalken und die Führung für ein großes Wehr erkennen kann. Einige Bilder davon findet ihr im Anhang.
So bleibt zu hoffen, dass der Graben noch einige Zeit überstehen wird und somit an jene Arbeiter erinnert, die dennoch auch als "Pioniere" bezeichnet werden dürfen, wollten sie immerhin der Natur Herr werden - das jedoch war ein Kampf, den sie letzten Endes verloren haben.
Adrian Roßner