Ein sterbendes Denkmal

  • Eine kurze Geschichte der Kulmbacher Spinnerei und des Mainleuser Zweigwerks


    Macht man sich von Kulmbach aus auf den Weg nach Mainleus, entdeckt man linker Hand eine abgehende Straße, die in ein wunderschönes Arbeiterviertel mit dem bezeichnenden Namen „Hornschuchhausen“ führt. Während der Fahrt durch die schön gepflegten Anlagen schält sich vor den Augen des Betrachters schließlich ein gigantischer Industriekomplex heraus, dessen Architektur die über hundertjährige Geschichte perfekt widerzuspiegeln scheint.


    Initiator des Baus ist Fritz Hornschuch, an dessen Initiative noch heute eben jene Siedlung erinnert, die eingangs bereits Erwähnung gefunden hat. Geboren am 10. September 1874 in Fürth studierte er am staatlichen Technikum für Textilindustrie in Reutlingen und trat im Jahre 1900 in die Geschäftsführung der bereits 1863 gegründeten Kulmbacher Spinnerei ein, die sein Vater Heinrich ein Jahr vorher erworben hatte. Mit der Berufung des gerade einmal 28jährigen Hornschuch zum alleinigen Geschäftsführer begann der steile Aufstieg des Betriebes, der innerhalb kürzester Zeit mit 3.200 Angestellten zu einem der führenden seiner Art in ganz Oberfranken wurde. Nach einem verheerenden Brand im Hauptgebäude in Kulmbach nutzte Hornschuch diese Chance, um das Werk nach den damals neuesten Gesichtspunkten wieder zu errichten: Englische Maschinen ratterten fortan in den modernen Sälen und die darauf produzierten Garne und Fäden genossen bald den Ruf, von bester Qualität zu sein. In diesen Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs jedoch kam die Kulmbacher Spinnerei (KSP) bald ebenso an ihre Grenzen, wie auch der Ausbau der Fabrikanlagen – das Grundstück wurde zu klein und so beschloss Hornschuch, einen Zweigbetrieb im nahen Mainleus mehr oder weniger aus dem Boden zu stampfen.


    Die Entwürfe der neuen Fabrik in Mainleus stammten, ebenso wie die zum Wiederaufbau der Kulmbacher Anlagen, aus der Feder des Fürther Architekten Adam Egerer, der sie in ebenerdiger Shedbauweise ausführte, um die Arbeitsabläufe zu vereinfachen. Schon am 1. Januar 1909 setzte sich mit schwerem Stampfen und lautem Dröhnen die 1.100 PS starke Dampfmaschine aus der Crimmitschauer Maschinenfabrik in Bewegung und trieb mittels Transmissionen die ersten Maschinen an. Nur drei Jahre später werden erste Erweiterungen nötig – die Spinnerei in Mainleus wächst auf das Doppelte an. Um die benötigten Arbeiter heranzuziehen, errichtet Hornschuch die nach ihm benannte Siedlung, stiftet neben einer Turnhalle auch einen Kindergarten, eine Bücherei und, für das leibliche Wohl, einen Konsum sowie mehrere Kantinen – der Betrieb wächst zu einer eigenen Kleinstadt an. Jedoch dämpft auch in Mainleus der erste Weltkrieg die Entwicklung der aufstrebenden Firma: 1914 hatten zwar bereits 1182 Menschen Arbeit im Werk gefunden, doch zwang die einsetzende Rohstoffknappheit Hornschuch zu einigen gewagten Experimenten, die schließlich in der Verspinnung von Papier endeten und zum Bau eines werkseigenen Sägewerks führten. Es ist diese Weitsicht und der Mut, Neues zu wagen, die Hornschuch zu einem der wichtigsten Industriellen unserer Region machten und es ihm ermöglichten, bereits kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges die Produktion in Mainleus wieder auf Volldampf zu fahren – 1928 beginnt er zudem mit der Verspinnung von Zellwolle und legt damit den Grundstein für die Verarbeitung synthetischer Fasern. Sechs Jahre später stellt er den Betrieb der Dampfmaschine ein und setzt fortan auf durch Wasserkraft erzeugten Strom – die alten Anlagen im Kesselhaus, das man 1960 umbaute und dabei auch das bis dato sichtbare Backsteinmauerwerk verblendete, liefern jedoch bis 2013 den Dampf für Heizungen und andere Systeme, womit sie dem Grundsatz des Firmengründers, demzufolge nichts verschwendet werden darf, alle Ehre machen.


    Der Auslagerung der Kugellagerfabriken Schweinfurt in die Mainleuser Spinnerei während des Zweiten Weltkriegs folgten Jahre des Auf- und Umbaus der Anlagen. Mit dem Tod Hornschuchs am 16. April 1955 wird die „Fritz Hornschuch Werksstiftung“ mit einem Kapital von 4,133 Millionen Mark gegründet. Ein letztes Geschenk des Industriellen an seine Arbeiter und damit auch ein weiteres Zeugnis für dessen soziales Engagement.


    Mit dem Einsetzen des Textilkrise, die auch im nahen Münchberg, der einstigen „Textilhauptstadt Deutschlands“, die Schließung diverser alteingesessener Firmen erzwingt, muss die KSP das Werk in Kulmbach am 30. Juni 1994 schließen und den Gesamtbetrieb nach Mainleus auslagern, wo er bis 2013 weiterlief. Dann kam das Ende.


    Spurensuche in den Katakomben


    Aufgrund der Vermittlung einer guten Bekannten nahm der Betriebsratsvorsitzende der KSP vor kurzem Kontakt mit mir auf und bot an, das Werk noch einmal zu besichtigen, ehe der Rückbau beginnt. Begeistert nahm ich die Einladung an und machte mich zwei Tage hintereinander für jeweils vier Stunden auf nach Mainleus – und damit auf eine Reise in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Zwar sieht man großen Teilen der Fabrikzeilen ihr Alter nicht mehr an, ein Umstand, der auf die letzten Umbaumaßnahmen in den 80er Jahren zurückzuführen ist, doch haben sie sich dennoch jenen Charme der industriellen Blüte erhalten, der in Verbindung mit der Ästhetik des langsamen Verfalls traumhafte Kulissen schuf. Da große Teile der Anlagen bei meinem Besuch bereits leergeräumt worden oder aufgrund der modernen Einrichtung uninteressant waren, konzentrierten wir uns neben der Schloßerei auf das alte Kesselhaus, bei dessen Anblick es mir schier die Sprache verschlug: Vier gigantische, von der Firma Kablitz installierte und aus Backstein gebaute Kessel beherrschen den riesigen Komplex, in dessen Mitte man sich schnell an die historischen Eisenhütten des Ruhrpotts erinnert fühlt. Auf Einladung des letzten Kesselwartes machen wir uns auf eine Reise durch das Gedärm der alten Fabrik, folgen verschlungen Pfaden in die ehemaligen Kohlebunker, werfen einen Blick auf die Entschlackungseinrichtungen, die jederzeit zum erneuten Betrieb bereitstehen, und klettern abschließend gar in die eisernen Kolosse. Weiter geht die Reise in das 1908 als Maschinenhaus errichtete Umspannwerk, wo noch immer das durchdringende Brummen der Hochspannungsleitungen die Härchen am Körper aufrecht stehen lässt. Ein besonderes Kleinod zeigt uns der letzte Elektriker der Firma in der hintersten Ecke des verwinkelten Traktes: Die Bedienelemente der Stromversorgung aus dem Jahr 1910.


    Am modernen Kessel vorbei, dessen Pumpen der Meister für uns noch einmal anstellt, und der auch zwei Wochen nach Betriebsstilllegung noch immer angenehme 70 Grad ausstrahlt, wenden wir uns der Schloßerei zu. In der Werkstatt fühlt man sich in die Zeiten der regen Betriebsamkeit zurückerinnert, als die zu Glanzzeiten 4.300 Arbeiter auf dem Gelände unterwegs waren oder in ihrer Freizeit bei der Feuerwehr, dem Bläserensemble und dem Werkschor mitwirkten. Alle Maschinen, manche davon noch aus den Anfangsjahren der Firma, sind noch ans Stromnetz angeschlossen und können mit wenigen Handgriffen wieder in Betrieb genommen werden – hinter einer schlichten Holztür, zu der ein altes Emaille-Schild den Zutritt verwehrt, betreten wir das aufgeräumte Lager, in dem jede Schraube, jeder Bohrer und alle möglichen Ersatzteile noch immer sauber in Schüben und Kästen schlummern.


    Nach einem kurzen Exkurs hinauf zum 1957 errichteten Wasserwerk, in dem noch heute 449.517 m³ an Reserven für den Betrieb lagern, machen wir uns schließlich wieder auf den Heimweg. Die Gefühle, die wir dabei haben, variieren: Einerseits grenzenlose Faszination für die historischen Anlagen, andererseits Trauer angesichts der Tatsache, dass während unserer Besichtigung mit dem Abpumpen des Wasserkreislaufes begonnen wurde, was, laut Aussage des zuständigen Mitarbeiters, „den Sterbevorgang der Fabrik“ einleitete. Die Zukunft indes ist ungewiss: Sicher konnten viele der Pläne und Unterlagen zwischenzeitlich in das Kulmbacher Archiv gebracht werden, sicher haben sich eifrige Sammler und Archive bereits letzte Relikte aus den Hallen mitgenommen, doch ist der Beschluss, die Firma besenrein an den neuen Eigentümer zu übergeben dennoch auch die Unterschrift unter der Sterbeurkunde des einzigartigen Flairs in den historischen Anlagen, die nicht unter Denkmalschutz stehen. So war denn also mein letztes Ziehen des imaginären Hutes vor der Firma auch ein Abschied auf ewig – mit einem Dank an die letzten Getreuen des alten Fritz Hornschuch, an jene Arbeiter also, deren traurige Pflicht es sein wird, den Rückbau der Anlagen zu begleiten, an denen sie selbst teilweise fast 50 Jahre standen, endet schließlich dieser Bericht einer Reise in die Vergangenheit, die mit der Demontage der Maschinen und Kessel langsam aber sicher aus dem Gedächtnis der Bevölkerung getilgt werden wird.


    Photos:
    1. Ansicht der Schloßerei
    2, 3, 4. Impressionen aus dem Kesselhaus
    5. In den Versorgungsschächten


  • Natürlich ist es immer Schade wenn "Zeitzeugen", wie die Industrieanlagen der Kulmbacher Spinnerei dem Verfall ,beziehungsweise dem Rückbau, zum Opfer fallen. Sicher ist aber auch, dass nicht jedes Gebäude, jeder wichtige Industriekomplex erhalten werden kann.


    Umso wichtiger sind dann Berichte und Dokumentationen wie der vorstehende Beitrag von Adrian. Danke Adrian für diesen kurzen Abriss zur Geschichte der von dir besuchten Spinnerei.


    Gruß Dieter


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